Stockholm - Du entkommst ihm nicht - Sophie Nuglisch

19.10.2023

Sophie Nuglisch ist mit »Stockholm« eine brutale und beklemmende Geschichte über das titelgebende Syndrom gelungen, die tief in die Abgründe der menschlichen Psyche eintaucht und den Leser schwer erschüttert.

Inhalt:

,,Es fühlte sich gut an, die Kontrolle zu haben. Es fühlte sich gut an, ihnen wehzutun. Es fühlte sich gut an, ihr Blut fließen zu sehen. Und es fühlte sich gut an, Rache zu üben."

Jung, intelligent und überaus attraktiv: Das sind die drei Freunde Casper, Erik und Lejs. Doch hinter der anziehenden Fassade verstecken sich Jahre des aufgestauten Hasses, der Brutalität und der Arroganz. Die 17-jährige Caja ist zur falschen Zeit am falschen Ort und gelangt in die Gewalt der drei rücksichtslosen Männer, die ihr Leben in eine qualvolle Hölle verwandeln. Nach und nach scheint das junge Mädchen jedoch eine Stütze in ihrem Entführer Casper zu finden. Aber sind diese Gefühle echt?

Lob:

Sophie Nuglischs Bücher sind etwas ganz Besonders. Langsam, fast schwerelos verliebt man sich beim Lesen in ihren Schreibstil. Wenn man ihre Geschichten liest, vergisst man alles um sich herum und wird aufgesaugt von den eigentlich grauenhaften, erschütternden Inhalten zwischen ihren Zeilen. Auf einmal ist da eine zerbrechliche Schwere im Herzen und ein schmerzhaftes Drücken im Bauch, während man mit ihren starken Protagonistinnen mitfühlt, mit ihnen weint, selten lacht und vor allem leidet. So erging es mir damals schon bei »Amanda«, und so war es nun auch bei »Stockholm«. Die Geschichte von »Stockholm« wird abwechselnd aus vorausdeutenden Rückblicken in die Vergangenheit der drei Täter und gegenwärtigen Szenen aus Cajas Perspektive erzählt. Sophie Nuglisch nimmt dabei kein Blatt vor den Mund und spart bei den im Buch geschilderten Taten keine hässlichen Details aus, was den Leser teilweise schwer schlucken lässt. ,,Wie kann man einem anderen Menschen, einem Lebewesen, nur so etwas antun?" Das ist nicht nur ein Zitat aus »Stockholm«, sondern auch eine Frage, die man sich als Leser im Verlauf der Geschichte immer wieder stellt. Was die Protagonistin Caja erlebt oder besser gesagt durchmachen muss, ist schrecklich, grausam, menschenunwürdig. Wer schwache Nerven hat oder mit Misshandlung nicht umgehen kann, sollte das Buch deshalb auf keinen Fall lesen und besser die Finger von ihm lassen. Wer es allerdings wagt, »Stockholm« zu lesen, begibt sich auf eine nervenaufreibende Reise tief in die Abgründe der menschlichen Psyche und wird mit Sicherheit nicht enttäuscht! Aber was genau ist das sogenannte ,,Stockholm Syndrom" eigentlich? Es beschreibt ein psychologisches Phänomen, bei welchem das Opfer einer Entführung im Laufe der Zeit Gefühle gegenüber dem Täter entwickelt. Machen wir uns nichts vor; diese Thematik wurde bereits in sehr vielen Büchern und gerade Fanfictions behandelt, jedoch meistens auf eine sehr romantisierende, schlichtweg falsche, schlecht recherchierte und dadurch schädliche Weise. Für mich war »Stockholm« das erste Buch, in dem dieses Syndrom realistisch und glaubwürdig dargestellt wurde, mit all seinen dunklen Facetten. Die Zuneigung, die Caja Casper gegenüber entwickelt, wirkt echt und ist sogar verständlich, wenn man bedenkt, dass er ihren einzigen Fels in der Brandung darstellt, sie auf ihn angewiesen ist und er sich im Gegensatz zu Lejs und Erik noch einigermaßen ,,nett" zu ihr verhält. Grob zu ihr ist er nur in Gegenwart der anderen beiden Männer und es scheint ihm tatsächlich irgendwie schwerzufallen, sich seine Taten im Nachhinein einzugestehen. Er ist auf eine paradoxe Art und Weise für Caja da und versucht, ihr zu helfen, bringt ihr Klamotten, Nahrung, und trägt sie zum Klo, wenn sie zu verletzt ist, um selbst dorthin gehen zu können. Irgendwann erkennt Caja, dass sie keine Angst mehr vor ihm hat. ,,Es klingt absolut bescheuert, aber er rettet mich. Er hält mich davon ab aufzugeben, wenn es zu sehr wehtut (...)", denkt die 17-jährige. Sie erkennt, dass ihr diese zweifelhaften und wahrscheinlich auch eingebildeten Gefühle für Casper Mut machen, und sie nur durch diese diese schreckliche Hölle überleben kann. Aber sind diese Emotionen wirklich nur eine Illusion? Die Grenzen scheinen zu verschwimmen und Caja versteht sich selbst nicht mehr. Wie kann sie ihren schlimmsten Feind nur lieben? ,,Eine Kugel in den Kopf, alle Gedanken an ihn verbrannt. Eine Schlinge um den Hals, der Atem seines Kusses erstickt. Ein Messer in den Bauch, alle Motten und Falter zerfetzt." Ebenfalls gut gefallen hat es mir, dass man in »Stockholm« auch in die Psyche der Täter eindringt und mithilfe von Rückblicken erfährt, wie die drei Männer sich kennenlernten, welche Erlebnisse sie verbinden und woher ihr verzweifelter, grausamer Hass auf Frauen rührt. Verlust, Zurückweisung, Trauer und Einsamkeit in Kindheit und Jugend spielen dabei eine große Rolle. Wie konnte es nur passieren, dass die Gewalt irgendwann zur Routine wurde und Casper, Erik und Lejs nach einiger Zeit aufhörten, sich zu fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte? Von Anfang an zeigt sich, wie mutig die 17-jährige Caja ist, doch gegen die drei betrunkenen Männer, die in die Villa ihres Vaters eingebrochen sind, hat sie keinerlei Chance. Was daraufhin folgt, ist wirklich, wirklich schlimm und man fiebert durchweg mit Caja mit. Dadurch, dass man als Leser in Cajas Gedankenwelt gefangen ist, erlebt man auf eine sehr intensive Art und Weise mit, was sie erlben muss. Schläge, Demütigungen, Drohungen, Vergewaltigungen, Schmerzen und vor allem dieser verzweifelte, mutige Widerstand bis ganz zum Schluss hin. Erik und Lejs machen sich einen Spaß aus Cajas Leid, schieben ihr alle Schuld zu, und verhalten sich dabei mit einer so boshaften Überheblichkeit, dass einem beim Lesen fast übel wird. Caja wird im Laufe der Geschichte so oft ohnmächtig, dass ich irgendwann aufgehört habe, mitzuzählen. Positiv ist mir aufgefallen, wie realistisch mit Cajas Verletzungen umgegangen wird und sie nachdem sie verprügelt wurde nicht einfach wieder entspannt aufsteht, wie es in einigen Büchern oder Filmen ja gerne mal dargestellt wird. Besonders gut hat mir die Szene gefallen, in der Caja und Casper in der Küche um das Messer ringen. Ein weiteres Highlicht von »Stockholm« ist für mich der bittere Humor des Romans, zum Beispiel, als Caja vorschlägt, dass Casper sie einfach gehen lassen soll und sie es niemandem erzählen wird, und sie daraufhin beide lachen, weil es so lächerlich auf sie wirkt. Generell hat mir die Figurendynamik und die allgemeine Figurengestaltung imponiert. Auch wenn andere Figuren kurz auftreten, ist »Stockholm« mehr oder weniger eine Vier-Mensch-Show rund um die mutige Caja und den hasserfüllten Lejs, der seine Freunde Erik und Casper mit sich in die Grausamkeit und den bitteren Hass gezogen hat. Auch die Folgen der Tat werden in »Stockholm« beleuchtet, für das Opfer wie für die Täter. Sophie Nuglisch gibt in ihrem Roman durch Cajas innere Stimme gleich noch einen Tipp mit, wie mit solch traumatischen Erlebnissen umzugehen ist: ,,Man muss sprechen, um zu verarbeiten, man muss die Dinge loslassen, um zu verstehen, was geschehen ist, und man muss beginnen, sich selbst zu lieben, wenn der Hass am schlimmsten ist." Die an manchen Stellen zerbrechliche, an anderen bleischwere Atmosphäre wird durch den sehr nachdenklichen, fast feinfühligen Schreibstil von Sophie Nuglisch erzielt. Gerade Cajas Sicht hat etwas Vergängliches an sich und schweift hin und wieder in eine poetische Richtung ab, was mir persönlich sehr gut gefallen hat. Ich möchte hier gerne einen kleinen Ausschnitt einfügen: ,,Ich habe das Verlangen, meine Hände einzucremen. Die Haut aufzuweichen, bis sie auf die dunklen Fliesen fetzt und ich schmelze. Wie eine Wachsfigur. Oder ein milchigweißer Fisch. Solch einer, den man in den riesigen Aquarien in den asiatischen Restaurants bewundern kann. Schuppe um Schuppe bedecke ich das Schwarz. Sieht aus wie Winter. Das bilde ich mir ein, das weiß ich. Aber irgendwie ist die Vorstellung schön. Schön, sich einfach ohne jegliches Empfinden zu lösen. Von allem. Man spürt die Hitze nicht mehr, man spürt die Kälte nicht mehr. Da ist kein Blut, da ist nur noch weißes Fleisch. Geraspelt wie Parmesan. Schnee."

Kritikpunkte:

Dadurch, dass es sehr lange gedauert hat, bis man als Leser die Namen der Protagonisten erfahren hat, war es für mich anfangs schwierig, Nähe zu den Figuren aufzubauen und vor allem Erik und Lejs auseinanderzuhalten. Die dadurch entstehende Distanz zu den Tätern war zwar passend, aber dass man zunächst selbst die Protagonistin nicht namentlich benennen konnte, hat mich dann doch etwas gestört. Kleine Fragen in Bezug auf die Logik haben sich mir beim Lesen ebenfalls gestellt, zum Beispiel, wie Casper gegen Ende gefesselt aus dem Kofferraum fliehen konnte. Da die Geschichte aus aus Cajas Sicht erzählt wird, erschließt sich mir zwar, warum der Leser hierzu keine weiteren Details erfährt, aber dennoch hätten ein, zwei Erklärungen für den Realismusgehalt des Buches gutgetan. Wie auch schon bei »Amanda« habe ich mich in diesem Buch ebenfalls mit dem Ende schwergetan. Es kam so abrupt, hinterließ offene Fragen und ließ mich als Leserin eher unbefriedigt zurück.

Fazit: »Stockholm« von Sophie Nuglisch, erschienen im SadWolf Verlag, ist eine schwer verdaubare Geschichte über Hass, Gewalt und trügerische Liebe, die dem Leser im Gedächtnis bleibt. Ich vergebe 4,7/5☆ und bedanke mich herzlichst für das Rezensionsexemplar!


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